Komm mir nicht so nahe!

Wir sitzen in einem italienischen Restaurant. Jedes Mal, wenn der Kellner an unseren Tisch kommt, berührt er meinen Rücken oder legt beim Reden seine Hand auf meinen Arm. Ich werde wahnsinnig. Wahrscheinlich gerade auch deshalb, weil ich in diesem Moment keine Idee habe, wie ich den

15.08.2020

Wir sitzen in einem italienischen Restaurant. Jedes Mal, wenn der Kellner an unseren Tisch kommt, berührt er meinen Rücken oder legt beim Reden seine Hand auf meinen Arm. Ich werde wahnsinnig. Wahrscheinlich gerade auch deshalb, weil ich in diesem Moment keine Idee habe, wie ich den Mann freundlich und humorvoll sagen kann, dass mir das unangenehm ist.

Es gibt Menschen, die kommen anderen am Tisch oft sehr nahe. Andere berühren die  Gesprächspartner*in beim Sprechen am Arm, manchmal weil Sie eine Information verstärken wollen oder Zustimmung wünschen. Oder Du gehst zu zweit spazieren und der/die andere kommt immer wieder nahe an deine Seite. Du hast aber auf der anderen Seite vielleicht keinen Platz, um auszuweichen.

Jeder Mensch hat ein anderes Gefühl für den Mindestabstand, der zu wahren ist, also ein unterschiedliches Distanz-Empfinden. Auch die Kultur, in der wir aufgewachsen sind, prägt dieses Gefühl. Es ist in Italien eben anders als in Deutschland. Und sicher hat es sich durch Corona und die neuen Regeln noch einmal verändert.

Proxemik
In der Wissenschaft existiert ein eigener Begriff dafür: Proxemik. Von Intimdistanz spricht man bei einem Abstand zwischen Null und 45 Zentimetern. In diesen Raum lassen wir nur die engsten Freunde, Familie und den eigenen Partner. Die nächste Stufe ist die persönliche Distanz, von 45 bis 120 Zentimetern, reserviert für gute Freunde und Verwandte. Manchmal auch möglich mit guten Kolleg*innen oder jemandem, der/die uns auf einer Party sympathisch erscheint. Bei einem Abstand von 120 bis 360 Zentimetern sprechen Experten von sozialer Distanz. In diesem Bereich findet Kontakt mit Menschen statt, die wir weniger oder noch gar nicht kennen.

Stimmen diese Maßeinheiten zu Corona-Zeiten überhaupt noch? Mir fällt auf, dass ich jetzt schon viel früher auf die Nähe von Menschen reagiere, als vorher. Außerdem macht die Corona-Begründung es sehr viel leichter, zu reagieren. Das Ganze ist damit nicht mehr so persönlich, sondern hat einen ‚offiziellen‘ Grund. Gleichzeitig passiert es mir manchmal aber auch, dass ich anderen zu nahe komme.

Zu viel Nähe macht Stress
Wie viele Menschen komme ich durch zu wenig Abstand unter Stress. Ich fühle mich ohnmächtig. Sicher auch, weil es – mal abgesehen von der Corona-Begründung - nicht so leicht ist, darauf nett zu reagieren. Besonders bei Freunden und mir bekannten Menschen fällt mir die Reaktion schwer. Bei Fremden scheint es mir nicht so wichtig zu sein, wie sie hinterher über mich denken. Ich brauche dann lange, um eine Rückmeldung zu geben. Schließlich möchte ich den/die andere nicht verletzen. Gleichzeitig fällt es durch den Druck, der in mir durch das Zögern entsteht, immer schwerer, eine entspannte, freundliche Rückmeldung zu geben.

Körperliche Signale
Gerade, wenn meine körperlichen Signale, die ich mit der Bitte um mehr Abstand aussende, nicht ankommen, steigt in mir oft eine kleine Wut hoch. Kennst Du das? Da muss ich dann besonders aufpassen, mein Feedback in einer Ich-Botschaft (z.B. ‚Ich fühle mich mit etwas mehr Abstand wohler.‘) rüberzubringen und den/die andere nicht anzuklagen.

Er meint gar nicht mich
Mir bewusst zu machen, dass der/die andere wahrscheinlich gar keine besonderen Absichten damit verbindet, sondern eben ein anderes Distanz-Empfinden hat, könnte den Druck eigentlich rausnehmen. Das Verhalten verliert so die persönliche Dimension. Es gilt nicht mir, sondern ist ein Automatismus.